Unbekannte(re) Klaviersonaten aus Russland

Dr. Kai Marius Schabram - Magazin "Klassik.com" (12.08.2023)

Anastasia Yasko gelingt ein großartiges CD-Projekt mit russischen Klaviersonaten des 20. Jahrhunderts.

Wenn ein Interpret auch Musikforscher ist, ergeben sich häufig besondere Konzepte der Werkexegese. Zu denken wäre hier im pianistischen Milieu an Charles Rosen oder Alfred Brendel, deren Analysen man schönerweise hören und lesen kann. Auch die russische Pianistin Anastasia Yasko gehört zu dieser Zunft, hat sie doch neben ihrer Promotion zum Thema „Die Klaviersonate in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ auch eine entsprechende CD beim Label Ars (2021) vorgelegt, die überaus gelungen ist.

Yasko spielt vier große Sonaten (Prokofjew Nr. 9, Sviridov Nr. 4, Feinberg Nr. 12, Weinberg Nr. 4) – Werke, die man (mit Ausnahme Prokofjews) leider nicht allzu häufig hört. Die Pianistin geht auf Grundlage ihrer analytischen Auseinandersetzung mit Intelligenz und Einfühlungsvermögen an die Individualität jeder Sonate. Ob nun Feinbergs zerbrechlich wirkende Simplizität und komplexe impressionistische Klangvielfalt, Weinbergs heterogene, zwischen Moderne und Klassizismus changierende Stilistik oder Sviridovs programmatisch aufgeladene Werkbewältigung angesichts des Weltkriegsendes – Yasko versteht es, die Charakteristiken wunderbar herauszuarbeiten. Bei Prokofjew wiederum verblüfft ihr Verständnis für die zyklisch-narrative Dimension des Werks, indem sie die Schlüsse der einzelnen Sonatensätze so darbietet, dass man die motivisch-thematischen Korrespondenzen zwischen den Teilen anschaulich wahrnimmt.

Was Yasko leider manchmal fehlt, ist gerade in den virtuos-dramatischen Phasen ein insgesamt packenderer und zwingenderer Zugriff. Manchmal wirkt ihr Spiel verhalten, obwohl der Notentext etwas anderes vorgibt. (Man vergleiche da etwa das Prokofjew-Finale im Live-Mitschnitt von Sviatoslav Richter aus dem Jahr 1956.) Und dennoch: Summa summarum bildet das CD-Projekt eine großartige Leistung, die gänzlich empfohlen sei!