„Frédéric Chopin Piano Works“

Andre Sokolowski - "Kultura-Extra" (5.01.2023)

Zu meinen ersten Schallplatten, die mir, als ich ein heranwachsender Jüngling war, erst meine Mutter, später ich selbst (von meinem Taschengeld) kaufte, zählte die auch „bei uns“ in der damaligen DDR lizenz-veröffentlichte RCA-Edition sämtlicher Klavierwerke von Frédéric Chopin mit dem jüdischen Pianisten Artur Rubinstein. Ich hatte die LPs bald alle zusammen, und bis heute klingen mir besagte Rubinsteins noch immer in den Ohren; ja, so lernte ich Chopins Klavierwerk kennen… Merkwürdig und fast auch komisch fand ich es dann schon, dass ich seither – und immerhin, jetzt bin über 60 – kaum dann jemand anderen zu „akzeptieren“ bereit war, der mir irgendwann und irgendwo einen Chopin, also nach seiner Art, nach seiner launigen Fasson, vorspielen würde; schließlich gab es hin und wieder doch dann einige, denen ich live oder mittels Konserve (Schallplatte, CD) Chopin für mich zu spiel’n „erlaubte“: Lasar Berman, Maurizio Pollini, Jan Lisiecki (neulich erst). So Hörerlebnisse prägen sich ein, und eine fast schon engstirnige Vorbelastetheit mag sich hieraus ergeben haben – doch ich will und kann natürlich auch weit über meinen Schatten springen…

Die in Kursk geborene russische Pianistin Anastasia Yasko – sie ist übrigens auch Doktor der Philosophie und unterrichtet seit 2018 am Mozarteum in Salzburg Klavier – hat jetzt vier umfangreichere Stücke von Chopin für ihre mittlerweile zweite CD ausgesucht und eingespielt: zwei Polonaisen, eine Ballade und eine Sonate. Die Scheibe erschien jetzt beim Label ARS Produktion.

Die Pianistin hat das Booklet zu ihrer CD selbst geschrieben, in ihm sind zu allen Stücken lesenswerte Werkeinführungen zu finden; ich zitiere aus ihren Texten:

„Die Musik des Andante spianato erzeugt durch eine ruhige Begleitung der linken Hand sowie eine singende, quasi schwebende Melodie, einen großen Kon­trast zur heroisch-brillanten Polonaise. Der Mittelteil des Andante (Semplice) mit dem Rhythmus einer Mazurka bringt nur etwas mehr Tanzbewegung in die gesamte kontemplative Stimmung. Da der Orchesterpart hauptsächlich nur eine rein begleitende Funktion hat, wird das Werk oft ohne Orchester gespielt. Trotz der Virtuosität, Brillanz und Bra­vour eines polnischen Tanzes empfindet man in dieser Polonaise eine gewisse emotionale Tiefe und sogar innere Dra­matik in der c-Moll Episode. Eine trium­phale, ‚brillante‘ Kadenz schließt den Zyklus mit der rhythmischen Hauptfigur der Polonaise in Oktaven ab.“

Beide Versionen, also die mit und die ohne Orchester, hatte auch Rubinstein damals aufgenommen, und ich war berauscht von seinem „Glasperlenspiel“ (Andante spinanato), wie als wollte er durch einen nahen Nebelschleier in eine ihm unsichtbare, unbekannte Ferne schweifen; tröpfelnd, nieselnd, perlend halt… Bei Anastasia Yasko hört sich Gleiches eigentümlich unsentimental, fast nüchtern an, man ist sogar geneigt, jeden der „vor- und abperlenden“ Töne mitzuzählen, sowieso vernebelt sie da nichts, aber auch gar nichts, und – das klingt schon (für mich) neu und gut und ist von einem tiefsinnigen, intelektuellen Reiz. Gefällt mir.

„Die vierte Ballade unterscheidet sich im Vergleich zu den vorigen, und das nicht nur durch eine anspruchsvolle Technik. Die Form ist hier komplex und die musikalischen Gestalten sind tenden­ziell dunkler und tragischer. Trotz dem hellen, kontemplativen Thema in der kurzen Einleitung erzeugt das Hauptthema eine melancholische und innerlich sehr schmerzliche Stimmung. Manche Themen haben einen fast religiösen und choralartigen Charakter, wäh­rend die anderen traumhaft und hell sind. Das permanente Variieren von The­men und deren intensive Dramatisierung führt zu einer stürmischen Coda, nach welcher die Ballade voller Verzweiflung und Tragik endet.“

Yaskos Interpretation hat etwas Bodenhaftiges, ist erdnah und entbehrt sodurch nicht einem nachhaltigen Anteil natureller Kraft.

„Die viersätzige Sonate [in h-Moll Nr. 3 op. 58] zeigt Chopins Reifeprozess in seinem Kompositionsstil: diese ist nicht mehr so impulsiv und hochdramatisch wie die vorangegangene Sonate op. 36, sondern viel introvertierter und zurückhaltender. Man spürt mehr Balance in der Formbbildung sowie in den tiefgreifenden und vieldeutigen musikalischen Gestalten.“

Sie ist das Kernstück der CD und zeugt sowohl von Yaskos unbedingtem Kenntnisreichtum hinsichtlich des Noten- und des Kontextes von der Sonate als auch ihrer interpretatorischen Durchdringung, kurzum: es hat pianistische Klasse! Ihr Spiel ist Prosa, man gelangt von Satz zu Satz als blättere man sich in einem Buch von einem zum nächsten Kapitel und – es wird nie langweilig, man ist gespannt, was halt als Nächstes so passiert.

Die abschließende Polonaise-Fantasie op. 61 „ist quasi ein Poem für Klavier, in welchem die innigsten Gefühle des Komponisten mitsamt allen Schattierun­gen eine klangliche Form annehmen. Man erkennt hier die Tendenzen eines späten Chopin mit komplexen Emotio­nen zu einem Kompositionsstil mit einer äußerst sensiblen Phrasierung und sehr wechselhaften Stimmungen. […] Die Kernaussage von Chopins Polonaisen hat der britische Musikwis­senschaftler Arthur Hedley sehr treffend interpretiert: ‚Stolz in der Vergangen­heit, Klagen in der Gegenwart, Hoffnung auf die Zukunft‘.“

Auch hier überzeugt Yasko, und auch hier – wie in den andern von ihr eingespielten Chopinstücken – bleibt sie als Entschwülstigerin stark erkenn- und erinnerbar. Vielleicht zählt es tatsächlich zum Verfänglichsten und Schwierigsten für Pianistinnen und Pianisten, eine mehr gefühlsentschlackende Sicht der Dinge in puncto Chopin, der mitunter schon recht süßlich klingen könnte, wenn er allzu süßlich (also völlig falsch) gesehen und gespielt würde; das vordergründig vermieden zu haben, gelang ihr ziemlich gut.

Nachhören!